
...herrlich ist dies Stückchen Erde, und ich bin ja dort daheim!
Rübezahls Schwur
18.01.2014 18:48Still und einsam lagen die Berge und Täler des Riesengebirges, kein Vogelgesang und kein Lachen der Menschen erfüllte die Luft. Nur der Sturmwind durchbrauste die Wälder und prallte mit orgelndem Ton an die Felsen und Schluchten der Berge. Kein Lebewesen war zu sehen, und nichts regte sich weit und breit. Doch jetzt, war es nicht, als ob kleine Wesen am Gipfel der Schneekoppe sich bewegten? Ja, es stimmte, oben auf der Kuppe des Berges saßen 5 kleine Menschlein und spähten verwundert ins Tal. Zwergenkönig Allarich mit 4 seiner Zwerge war es, die dort oben seit langer Zeit wieder einmal auf der Erdoberfläche erschienen waren. Doch was sie sahen, ließ sie erbeben. Waren doch die Berge früher immer so belebt, und nun, kein Mensch war zu sehen. Da brach er eine der Zwerge das lange Schweigen und sprach: "Allarich, wo sind die Menschen dieser Bergwelt, was ist seit unserem letzten Hiersein geschehen?" Doch auch der Zwergenkönig konnte ihm auf diese Frage keine Antwort geben, da sie ja im Innern der Berge nichts von dem größten Verbrechen, das je an der Menschheit verübt wurde, vernommen hatten. Schnell beschlossen sie, diese ihre Beobachtungen dem König der Berge, Rübezahl, zu melden und verschwanden wieder im Schoß der Erde. Rübezahl aber saß zu dieser Zeit in seinem unterirdischen Schloß und wischte sich den Schlaf aus den Augen. Denn lange hatte er geschlafen und war nicht mehr über die Bergkämme seines Reiches gewandert. Nun aber zog es ihn mit Macht zu seinen geliebten Menschenkindern der Riesengebirgsheimat. Da betrat Allarich, gefolgt von seinen Zwergen, das Zimmer und blieb ängstlich an der Tür des großen Raumes stehen. Endlich gewahrte sie der Berggeist und fragte: "Was führt euch zu mir, und warum seid ihr so traurig?" Da sprach Allarich mit leiser Stimme: "O Herr, Schreckliches muß in deinem Reich geschehen sein, kein Mensch ist zu sehen, und kein Vöglein erfüllt die Lüfte mit seinem fröhlichen Gesang. Die Welt der Berge scheint ausgestorben und leer." Als Rübezahl diese Worte vernahm, sprang er auf, und mit donnerndem Getöse fuhr er zum Gipfel des Berges. Doch auch hier bot sich ihm das gleiche Bild wie den Zwergen kurz zuvor. Erschreckt ließ er sich auf einem Felsblock nieder, und lange schweifte sein Blick über Berg und Tal. Ungewohnt und unfassbar war ihm diese unheimliche Stille. Plötzlich sprang er auf und stürmte mit riesigen Schritten ins Tal hinab. Als er bei der Riesenbaude vorbeikam, starrten ihn die verkohlten Reste der einst so stolzen Bergbaude an. Stumm blieb er stehen und betrachtete das verwüstete Gebäude. In seinen Augen aber loderte und gleiste mit einem Male ein unheimliches Feuer, seine Züge erstarrten, und drohend ballte sich seine Hand. So schritt er nun weiter ins Tal hinab, doch überall bot sich ihm das gleiche Bild. Verfallen die Wege, verwildert der Wald, und über allem die unheimliche Totenstille. Endlich gelangte er nach Petzer und hoffte, hier einige Menschen zu finden, die ihm dies alles erklären konnten. Doch vergebens war all sein Suchen und Spähen. Überall, wo er in dem sonst so idyllischen Wintersportort hinsah, starrten ihn leere Fenster- und Türhöhlen an. Die Häuser drohten bei der geringsten Erschütterung einzustürzen und so dies jämmerliche Bild noch grauenhafter zu gestalten. Erschüttert und sprachlos wandte sich der Berggeist ab und lenkte zögernd seine Schritte weiter uns Aupatal hinab. Immer wieder durchforschten seine Augen die Berge und Schluchten, um endlich ein Lebewesen zu erblicken, doch all sein Mühen war vergebens.
Da, mit einem Male, glaubte er ein Geräusch zu hören, klang das nicht wie ein weher Schmerzensschrei? Schnell stürmte er die Straße entlang, und als er um die nächste Straßenbiegung kam, sah er unweit eine Gruppe von Menschen stehen. Durch seine auf der so grauenhaften Wanderung gemachten Feststellungen misstrauisch geworden, machte er sich unsichtbar und schlich an die Gruppe heran. Doch was er hier sah, ließ ihn vor Schrecken erstarren. Fremde Menschen in fremden Uniformen hieben erbarmungslos auf ein altes Weiblein, welches am Boden lag, ein. Als es kein Lebenszeichen mehr von sich gab, wandten sie sich mit satanischem Grinsen von ihrem Opfer ab, es achtlos und unbarmherzig liegenlassend. Rübezahl trat nun an das am Boden liegende Mütterlein heran, kniete bei ihr nieder und strich ihr behutsam übers Haar. Ganz sacht nahm er ihren Kopf in seine Hände und blickte ihr unentwegt in das von Leid und Not gezeichnete Gesicht. Mit einem Male bewegten sich ihre Lippen und leise flüsterte sie: "Ach, lieber Gott, helf meinem so geplagten Volke." Tiefergriffen vernahm der Berggeist die ersten deutschen Laute. Er sprang auf, nahm das Mütterlein auf seine Arme und schritt mit ihr ins nächste Tal hinein. Dort bettete er sie behutsam ins Moos und flößte ihr aus einem kleinen Fläschen neuen Lebensgeist ein. Kurz darauf schlug das Mütterlein die Augen auf und starrte erschreckt auf den fremden Mann. Ihre Lippen aber flüsterten ängstlich: "Ach, lieber Mann, tut mir nichts, ich kann ja nichts dafür, daß ich noch lebe. Jagt mich nicht fort wie die anderen alle, ich möchte doch so gerne in der Heimat sterben, und lange wird es bei mir nicht mehr dauern." Da überlief den Berggeist ein kalter Schauer, und mit leiser aber gütiger Stimme sprach er: "Liebes Mütterlein, fürchte dich nicht, ich bin Rübezahl, der König der Berge. Doch erzähle mir, was ging hier vor, wo sind meine lieben Riesengebirgskinder?" Das Mütterlein aber, als es dies vernahm, schluchzte laut auf, und unter Tränen erzähle es dem Berggeist von der grauenhaften Austreibung seiner Bergbewohner. Als das Mütterlein geendet hatte, sprang Rübezahl auf und sprach: Du, das letzte Mütterlein meiner geliebten Riesengebirgskinder, sollst bei mir bleiben, als Mutter der geliebten Riesengebirgsheimat." Er rief den Sturmwind herbei, setzte sich mit dem Mütterlein in seinen Wagen und fuhr zum Gipfel der Schneekoppe zurück. Dort erwartete ihn Allarich mit seinen Zwergen, um endlich Nachricht aus den Bergen und Tälern zu bekommen. Still trat Rübezahl auf ihn zu, übergab ihm das Weiblein udn sprach: "Hier bringe ich dir die Mutter der Berge, sie soll von nun an über euch walten und die geliebte Heimat betreuen, bis einstens meine Riesengebirgskinder wieder in meine Berge einziehen." Allarich beugte vor dem König der Berge sein Knie und gelobte dem Mütterlein ewige Treue.
Da richtete sich der Berggeist noch einmal auf, und indem seine Hand sich zum heiligen Schwur erhob, rief er mit donnernder Stimme zum Himmel empor: "Nie wieder soll eines Menschen Fuß mein Reich betreten, bevor nicht die Schmach, die meinen geliebten Riesengebirgskindern angetan wurde, getilgt ist und sie wieder in ihr Heimatland zurückkehren können."
So hält Rübezahl an der Seite der neuen Mutter der Berge Wacht über sein geliebtes Heimatland und wird nicht eher ruhen, bis auch wir wieder in seine Berge und Täler einziehen werden.
(Leopold Simon -
entnommen aus dem "Riesengebirgs-Heimatbuch mit Kalender für das Jahr 1951")
—————