
...herrlich ist dies Stückchen Erde, und ich bin ja dort daheim!
Der Zug der ungetauften Kindlein im Nonnenholz (bei Aidhausen)
27.10.2014 17:21Einst hütete Enzian, der Schäferknecht vom Winzighofe in Reichmannshausen, seine Schafe in den Waldungen bei Aidhausen. Plötzlich brachen wildernde Hunde in die weitverstreute Herde ein und versprengten eine Anzahl von Schafen.
Da es bereits dunktelte, trieb der Schäfer seine Herde heim und begab sich sogleich mit Lena, einer jungen unbescholtenen Magd des Hofes in Begleitung seiner Hunde auf die Suche nach den fehlenden Tieren.
Zauberhaftes Mondlicht lag in der Walpurgisnacht zwischen den hohen Buchen und Eichen. Als sie an die "Rotmattern" im Aidhäuser Gehölz kamen, vernahmen sie lautes Singen und Beten von vielen tausend Stimmen. - Woher mochten diese Klänge kommen? Waren es die armen Seelen von Arolsbach, jener vor langer Zeit untergegangenen Siedlung? Waren es die Seelen verstorbener Klosterfrauen des einstigen Nonnenklosters, die hier in grauer Vorzeit ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten?
Tief bewegt beschlossen die beiden Suchenden - es ging schon auf Mitternacht zu - wenn auch unverrichteter Sache, wieder umzukehren. Als sie aber am Nonnenbrünnlein vorbei in das Nonnenholz kamen, entdeckten sie die versprengten Schafe im Silberlicht des Mondes zwischen den Waldbäumen. Froh und zufrieden näherten sie sich ihnen, und zutraulich liefen die wiedergefundenen Tiere mit ihnen über die Waldlinie gegen Reichmannshausen zu.
Plötzlich blieben die Schafe stehen und drängten sich dicht an ihre beiden Beschützer heran. Auch die Hunde verhielten sich so. Im rechten und linken Graben der Waldlinie sahen sie beiderseits einen langen Zug kleiner Kinder, dicht hintereinandergehend, herankommen. Von zwei großen Gestalten angeführt, zogen die beiden Reihen lautlos und eiligen Schrittes an ihnen vorüber. Weder Freude noch Trauer lag auf den Gesichtern. Als der Zug beendet war, bogen sie mit der Kinderschar von der Waldlinie nach links ab und verschwanden im Nonnenholz. Nun vernahmen Enzian und Lena wiederum das Singen und Beten, bis sie die Reichmannshäuser Flur erreicht hatten.
Man erzählt sich, daß es sich bei dieser Erscheinung um einen Zug von ungetauften Kindlein handeln würde, die weder im Himmel noch in der Hölle weiterleben könnten. Sie müßten so lange auf der Welt umherwandern, bis sie einst nach dem Weltgericht vom Herrgott in die ewige Seligkeit aufgenommen würden.
(entnommen aus "Sagen des Kreises Hofheim", August Mayer, 1965)
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